Stell dir vor, du hast dich für ein spannendes Yogaretreat angemeldet. Die Lehrerin kennst du nur aus dem Internet. In ihren Videos wirkt sie sehr kompetent, offen und freundlich. Du freust dich, sie endlich persönlich kennenzulernen.
Du bist auf deiner Matte, da betritt sie live den Yogaraum. Sie geht schnell, leicht gebeugt, den Kopf leicht gesenkt, die Schultern gehoben, zielstrebig auf ihre Matte zu, als ob diese der rettende Anker ist. Das Gesicht ist angespannt, sie findet keinen Blickkontakt zu den Teilnehmer*innen. Sie hat noch nichts gesagt oder gemacht und du bist wahrscheinlich irritiert. Das Bild, dass du dir von ihr gemacht hast, passt nicht zu diesem ersten Eindruck.
Doch auf der Matte angekommen, verändert sich ihre Körperhaltung. Sie setzt sich auf die Matte, das Becken richtet sich auf, die Wirbelsäule streckt sich, der Brustkorb wird weiter, die Schultern entspannen sich – sie öffnet sich ihrem Publikum. Ein leichtes Lächeln beginnt sich über ihr Gesicht auszubreiten, sie sucht und findet den Augenkontakt mit ihren Yogaschüler*innen.
Ihre Körperhaltung hat dir ganz eindeutig gezeigt, wie sie sich gefühlt hat in jedem Moment seit Betreten des Raumes. Erst wahrscheinlich unsicher, ängstlich, noch nicht da und dann sicher, offen, freudig. So wie du sie kennst.
Dieses Beispiel zeigt, wie Körper und Geist eine Einheit sind, wie sie sich gegenseitig beeinflussen. Die innere Haltung drückt sich in der äußeren Haltung aus. Unsere gelebten Erfahrungen, Denk- und Handlungsmuster und Emotionen sind in unseren Körperhaltungen sichtbar.
So erklärt Gerhard Hüther in dem Buch „Embodiment“ den Prozess als Verlust der Verbindung zum Körper: „Jeder Mensch passt sich im Verlaufe seiner Kindheit an die Vorstellungswelt und die Verhaltensweisen der Erwachsenen an, mit denen er aufwächst. Später, als Jugendlicher, orientiert er sich zunehmend an den Denk- und Verhaltensweisen seiner Altersgenossen, Peer-Groups, zu denen er oder sie gerne gehört oder gehören möchte. Ohne es selbst zu bemerken, entfernt sich der betroffene Mensch im Verlauf dieses Anpassungsprozesses immer weiter von dem, was sein Denken, Fühlen und Handeln ursprünglich, als er noch ein Kind war, primär geprägt hatte: Die eigene Körpererfahrung und die eigene Sinneserfahrung“. Wie wir uns bewegen, wie wir etwas machen, zeigt wie und wer wir in diesem Moment sind. Doch die gute Nachricht ist, wir können uns auch verändern über unsere Körperhaltungen, wenn wir unsere Muster erkennen. Das ist das Konzept des Embodiment – wörtlich als Verkörperung übersetzt.
Praktisch heißt das, zum einen kann ich an meiner Körperhaltung erkennen, wie es mir wirklich geht und umgekehrt kann ich über meine Körperhaltung meine Emotionen aktiv beeinflussen.
Embodiment können wir gerade im Yoga nutzen, um uns selbst besser wahrzunehmen, uns besser kennenzulernen.
Der Körper zeigt uns immer, wie es uns geht, was wir brauchen. Doch häufig ignorieren wir das und versuchen unser Nicht-Funktionieren mit Tabletten zu lösen oder mit anderen Ablenkungen zu übertünchen. Doch wenn wir älter werden, werden die Signale des Körpers immer lauter. Es wird deshalb Zeit, nicht mehr auf die alten Strategien zu setzen, sondern genauer hinzuschauen, was will mir mein Körper sagen.
Der ideale Partner des Embodiment ist der Yoga. Der bewußte Umgang mit dem Körper in den Asanas, Meditation und Pranayama für mehr Achtsamkeit sind eine wunderbare Basis uns besser kennenzulernen.
Daraus hat Mark Walsh die „Embodied Yoga Principles“ entwickelt. Er verwendet 24 Hauptstellungen, die eine archetypische Landkarte des Menschseins abbilden. Darunter sind klassische Yogahaltungen, wie der Krieger II, die Berghaltung oder die Haltung des Kindes.
Die Kriegerhaltung z.B. verkörpert Fokus, Entschlossenheit, Raum einnehmen. Es geht darum, wahrzunehmen, wie sich die Haltung anfühlt – mach ich sie gerne, will ich zeigen, dass ich sie lange halten kann oder kommt schnell der Gedanke, nicht mehr zu wollen… Das sagt schon viel aus über meine Grundhaltung zu den Themen Fokus, Entschlossenheit und Raum. Und dann geht es darum zu erkennen, wo ich in meinem Leben diese Qualität finden kann und ob ich irgendwo mehr oder auch weniger davon haben möchte.
Der Körper zeigt dir deine Muster, deine Verhaltensweisen, deine Erfahrungen. Und das tolle ist, du kannst, wenn du diese Haltungen öfter praktizierst, sie so veränderst, wie du sie brauchst, auch deine Muster und Verhaltensweisen verändern und damit auch deine Emotionen.
Im Positive Aging Yoga ist Embodiment so wertvoll, weil es einen weiteren Weg neben Meditation und Pranayama zur Selbstwahrnehmung darstellt. Den Weg über den Körper, der schon soviel gespeichert hat und zu Denk- und Handlungsmustern verdichtet hat, die uns gar nicht bewusst sind.
Wenn du es mal ausprobieren willst, findest du hier ein kurzes Video zur
Viel Spaß damit!
Deine Sabine